Im Bereich grenzüberschreitender sozialer Vergünstigungen kann ein Kind in einer neu zusammengesetzten Familie als Kind des Stiefelternteils angesehen werden.
In diesem Bereich wird das Kindsverhältnis nicht im rechtlichen Sinne, sondern im wirtschaftlichen Sinne definiert, womit das Kind eines Stiefelternteils, der berufstätiger Grenzgänger ist, Anspruch auf eine soziale Vergünstigung hat, wenn dieser Stiefelternteil tatsächlich zu seinem Unterhalt beiträgt.

Zwischen Juli 2013 und Juli 2014 konnten nach luxemburgischem Recht Kinder von Grenzgängern, die in Luxemburg unselbständig oder selbständig beruflich tätig sind, eine finanzielle Studienbeihilfe unter der Voraussetzung beantragen, dass der Grenzgänger zum Zeitpunkt der Antragstellung mindestens fünf Jahre lang ununterbrochen in Luxemburg gearbeitet hatte.

Frau Noémie Depesme, Herr Adrien Kauffmann und Herr Maxime Lefort leben jeder in einer neu zusammengesetzten Familie, die jeweils aus ihrer genetischen Mutter und ihrem Stiefvater besteht (der genetische Vater lebt entweder von der Mutter getrennt oder ist verstorben). Alle drei beantragten für das Studienjahr 2013/2014 in Luxemburg Studienbeihilfen, weil ihr jeweiliger Stiefvater dort seit mehr als fünf Jahren ununterbrochen gearbeitet hatte (keine der Mütter arbeitete hingegen zu dieser Zeit dort). Die luxemburgischen Behörden lehnten diese Anträge mit der Begründung ab, dass Frau Depesme, Herr Kauffmann und Herr Lefort rechtlich nicht „Kinder“ eines berufstätigen Grenzgängers seien, sondern nur „Stiefkinder“.

Gegen diese Entscheidungen erhoben die drei Studenten Klage. Die mit diesen Klagen befasste Cour administrative du Luxembourg (Verwaltungsgerichtshof Luxemburg) hat daraufhin dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob im Bereich sozialer Vergünstigungen der Begriff „Kind“ auch Stiefkinder einschließen muss. Anders gesagt, geht es um die Frage, ob das Kindsverhältnis nicht im rechtlichen, sondern im wirtschaftlichen Sinne aufzufassen ist.

In seinem Urteil vom 15.12.2016 weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass Arbeitnehmer aus einem Mitgliedstaat in jedem anderen Mitgliedstaat, in dem sie arbeiten, die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer genießen müssen. Er führt weiter aus, dass Kinder definiert werden als die Verwandten in gerader absteigender Linie des Ehegatten oder des Lebenspartners, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird. Dabei ergibt sich aus der Entwicklung der Unionsvorschriften, dass die Familienangehörigen, denen mittelbar die Gleichbehandlung zugutekommen kann, die Familienangehörigen im Sinne der Definition dieses Begriffs isind.

Der Gerichtshof schließt daraus, dass die Kinder des Ehegatten oder des anerkannten Lebenspartners eines Grenzgängers als dessen Kinder angesehen werden können, um in den Genuss einer sozialen Vergünstigung wie einer Studienbeihilfe kommen zu können, zumal der Begriff „Familienangehörige“ auch die Familienangehörigen von Grenzgängern erfasst.

Zu der Frage, inwieweit der berufstätige Grenzgänger zum Unterhalt eines Studenten, zu dem er keine rechtliche Bindung hat, beitragen muss, führt der Gerichtshof aus, dass nach der Rechtsprechung die Eigenschaft als Familienangehöriger, dem Unterhalt gewährt wird, einer tatsächlichen Situation entspringt und dass dies auch für den Beitrag eines Ehegatten zum Unterhalt seiner Stiefkinder gilt. Somit kann der Beitrag zum Unterhalt des Kindes durch objektive Gesichtspunkte wie die Ehe, eine eingetragene Partnerschaft oder auch eine gemeinsame Wohnung nachgewiesen werden, und zwar ohne hierfür ermitteln zu müssen, aus welchen Gründen der berufstätige Grenzgänger zu diesem Unterhalt beiträgt oder auf welche genaue Höhe sein Beitrag zu beziffern ist. (Quelle: EU)