Wie wir persönlich selbst am Besten wissen: Grenzgänger haben ein etwas anders Leben – wie die Éducatrice Sandra. Sie ist gebürtige Luxemburgerin, arbeitet zu Ettelbrück im Großherzogtum, die Kinder geboren in Luxemburg, gehen in die Schule in Deutschland und sie zahlt für ihr Haus in Deutschland einen Kredit ab. Und fährt jeden Tag über die Grenze zu ihrer Arbeitsstelle.

Sie ist auch eine von Hunderttausenden, die jeden Tag nach Luxemburg zum Arbeiten fahren. Inklusive der damit verbundenen tagtäglichen Erfahrungen. Auf intensive Weise mehr darüber erfahren kann man jetzt in der Ausstellung „Frontaliers. Des vies en stéréo“ (Grenzgänger – Leben in Stereo) in Esch-Belval, Luxemburg.

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50.000 der Pendler kommen aus Deutschland, 49.500 aus Belgien, mit 112.000 kommen aber die meisten Grenzgänger aus Frankreich. Insgesamt haben 2021, nach Angaben der Luxemburger Statistikbehörde Statec, 212.000 Grenzgänger im Großherzogtum gearbeitet. Das entspricht 46 % der Arbeitnehmer in Luxemburg.

Aus Lothringen stammt der Großteil der Grenzgänger

Gezeigt wird die Ausstellung „Frontaliers. Des vies en stéréo“ im ehemals stark industriegeprägten Viertel Belval von Esch-sur-Alzette anlässlich des gemeinsamen Titels als Europäische Kulturhauptstadt 2022 von elf südluxemburgischen und acht nordlothringischen Gemeinden.

Mehr als 90 % der rund 112.500 Pendler, die täglich aus Frankreich nach Luxemburg pendeln, leben in den ehemals von Stahl- und Kohle-Industrie lebenden Départements Meurthe-et-Moselle und Moselle. Die Folgen des Industrieerbes sind auch Thema der Ausstellung.

 

 

Die meisten Luxemburg-Pendler leben in Lothringen Frankreich, mit einigem Abstand gefolgt von deutschen Grenzgängern. Und viele mehr oder minder grenznah, in der Eifel, Trierer-Land,  in Audun-le-Tiche oder nah am Saarland in Saargemünd.

Aber gibt es sie – die typischen Luxemburg-Pendler aus der Großregion, Deutschland, Frankreich, Belgien? Was treibt sie dazu, jeden Tag zwischen ein bis drei Stunden zur Arbeit zu fahren? Und welche Arbeitsmentalität erwartet sie dort?

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O-Töne und persönliche Eindrücke zusammengefasst

Der Regisseur Mehdi Ahoudig und der Fotograf und Filmemacher Samuel Bollendorff aus Frankreich wollten das genau wissen und haben sich auf die Suche gemacht. „Wir haben die Grenzgänger auf viele verschiedene Weisen gesucht, über Rathäuser, in Bistros, über Vereine, wir sind in die Siedlungen gefahren, haben mit etwa hundert gesprochen und die stärksten Momente ihrer Berichte ausgewählt“, so Bollendorff. Gut einem Dutzend dieser Berichte begegnet man in der Ausstellung. Die Ergebnisse dokumentarisch ausgeführt.

Das ist auch der Clou dieser Ausstellung: sie funktioniert so weniger über Fotos und Texte, sondern über kleine Filme aus dem Alltag der Pendler und ihre eingesprochenen Gedankengänge. Mit Kopfhörern geht es in die Ausstellung, in der auf großen Leinwänden kurze Filme laufen und gezeigte Fotos teilweise auch animiert sind.

Eye-Catcher sind die “Autokinos”

Ein klarer Höhepunkt der Ausstellung, der das Publikum kurz in die Pendlerwelt eintauchen lässt: in einem dunklen Raum stehen vier Autos. In ihnen werden auf die Frontscheibe die Ausschnitte aus vier verschiedenen Grenzgänger-Leben projiziert, im Ohr hört man sie über sehr kurze Nächte, bösartiges Management und kaum vergleichbares Gehaltsglück berichten.

Auch für Nicht-Grenzgänger: wer nicht nach Luxemburg pendelt, bekommt hier einen realistischen Eindruck; wer es hingegen tut, kann sich auf die eine oder andere Weise wiederfinden – und wenn es nur beim Blick auf das Abspulen des Mittelstreifens einer karg-nebeligen Autobahn auf der Frontscheibe des Autos ist.

Sprachführung auf französisch, deutsche Übersetzung zum Mitlesen

Kleiner Wermutstropfen für nicht-französischsprachiges Publikum: Die Berichte der Grenzgängerinnen und Grenzgänger erklingen über die Kopfhörer auf Französisch; in der deutschen Broschüre am Eingang findet man aber alle Berichte übersetzt zum Mitlesen.

Der Ausstellung gehen zweieinhalb Jahre Arbeit voraus. Der Auftrag für die Ausstellung kam Ende 2019. „Wir hatten ungewöhnlich viel Zeit für das Projekt, was uns eine bessere Qualität ermöglicht hat und wodurch neben der Ausstellung auch eine Broschüre und ein Film entstanden sind“, sagt Ahoudig.

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Die dokumentarische Arbeit der Ausstellung dringt tief in die Seelen der Pendler ein, entlockt den Befragten Pragmatismus, Ängste, Hoffnungen, Verletzungen und Stolz. Zwei Aspekte kommen aber zu kurz, und zwar die soziologische und kulturelle Dimensionen. Denn Pendeln über die Grenze umfasst nicht nur Arbeit und Geld, sondern betrifft auch Familie, Freizeit, Freunde und Kulturberührungen gleichermaßen.

Faktor Zeit – wichtig, doch zu wenig thematisiert

Wie Angehörige das Pendlerdasein erleben, kommt immerhin in einem Bericht einer Frau zum Tragen, deren Partner im Großherzogtum arbeitet und viele Überstunden macht. Was auch zu knapp thematisiert wird, aber für viele Luxemburg-Pendler zum entscheidenden Thema werden kann, ist der Faktor Zeit.

Mehrere Stunden pro Tag in Bus, Auto, Zug – oder für Viele auch in einer Kombination daraus –, das ist auf Woche, Monat, Jahr viel Zeit, die für Familien, Hobbys oder Schlaf dauerhaft fehlen. Dennoch ist „Frontaliers. Des vies en stéréo“ eine aufschlussreiche, berührende und sehenswerte Ausstellung. Für Grenzgänger und Nicht-Grenzgänger.

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Die Ausstellung „Frontaliers. Des viesen stéréo“ bis zum 5. Februar in der Massenoire in Esch-Belval geöffnet. Im Oktober täglich von 11 bis 19 Uhr, ab November täglich bis 18 Uhr; dienstags immer geschlossen. Zugang über Visitor Centre Esch2022, 3, Avenue des Hauts-Fourneaux, Esch-sur-Alzette. Die Ausstellung wird durch verschiedene Workshops ergänzt. Anmeldungen unter Esch2022.lu https://esch2022.lu/de/