Beteiligte berichten von dramatischen Situationen. Überbelegte Patientenzimmer, tagelanger Aufenthalt in der Notaufnahme, Verlegung von kranken Babys in mehr als 100 Kilometer entfernte Krankenhäuser: die aktuelle Welle von Atemwegsinfekten bringt Kinderkliniken in Deutschland ans Limit. Von einer „katastrophalen Lage“ auf den Kinder-Intensivstationen spricht die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi).

Sehr bedenklich: wenn ein gerade reanimierter Säugling in einer eigentlich voll belegte Kinderklinik aufgenommen werde, müsse dort ein Dreijähriger den dritten Tag in Folge auf seine dringend notwendige Herzoperation warten.

Alle Jahre wieder: RS-Virus

Den Medizinern zufolge ist jedes Jahr ab Herbst mit einer Welle von Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) zu rechnen. Es stehen aber insgesamt immer weniger Kinderklinik-Betten zur Verfügung, wie Divi-Generalsekretär Florian Hoffmann am Mittwoch, den 30. November erläuterte. Zudem kann, wegen Mangels an Pflegepersonal, ein großer Teil der Betten auf den Stationen gar nicht betrieben werden.

Lesen Sie auch: Niemanden vergessen: im Großherzogtum gibt es eine universelle Abdeckung der Gesundheitspflege

Im Rheinland seien phasenweise „alle Betten komplett voll“, sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Jörg Dötsch. Sechs bis sieben Stunden Wartezeit in der Notaufnahme seien keine Seltenheit. „Es ist sehr unangenehm, wenn Kinder und ihre Familien in der Notaufnahme quasi campieren müssen“, klagt Dötsch (der auch Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln ist).

Verlegung 150 Kilometer entfernt

So wurde aus der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in der Nacht zu Freitag ein Kind nach Magdeburg verlegt, Entfernung rund 150 Kilometer. „Meine Kollegen hatten 21 Kliniken angerufen“, klagt Gesine Hansen, Ärztliche Direktorin der MHH-Klinik für Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Neonatologie.

Das etwa einjährige Kind hatte eine RSV-Infektion, die vor allem für die Jüngsten und Kinder mit Vorerkrankungen lebensbedrohlich werden kann. Es würden aber keine Kinder in einem sehr schlechten Gesundheitszustand verlegt, betont Hansen. Dann müsse ein Kind, dem es besser geht, an seiner Stelle verlegt werden.

Kaum noch freie Betten

Kaum eine Klinik hatte laut Divi in den vergangenen Tagen noch ein freies Kinderbett oder freies Kinderintensivbett. „Kinder müssen über Tage in der Notaufnahme liegen“, beschreibt es Hoffmann. Oder Stationen müssten überbelegt werden.

Dabei sei der Höhepunkt der aktuellen Welle von Atemwegsinfektionen bei Kindern noch längst nicht erreicht, so Hoffmann: „Die Lage in Praxen und Kliniken wird in den kommenden Wochen noch schlimmer werden.“

„Wir sind an der Belastungsgrenze“, sagt Matthias Keller, Leiter der Kinderklinik Dritter Orden Passau bereits jetzt. Die Zimmer seien oft doppelt belegt. Es fehlten zum Teil Monitore zur Überwachung der Kinder sowie Geräte für die Atemunterstützung. „Manche Patientenzimmer sind wie Bettenlager, da muss man wirklich über die Betten krabbeln, um zum kranken Kind zu kommen, weil sich Elternbett an Patientenbett reiht“, sagt Keller, der auch Vorsitzender der süddeutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin ist.

Lesen Sie auch: Atemwegsinfekte bringt Luxemburger Kannerklinik an die Grenzen

Infektionen blieben im Zuge der Corona-Schutzmaßnahmen aus

Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) kommen weltweit geschätzte 5,6 schwere Fälle von RSV-Atemwegserkrankungen pro 1.000 Kinder im ersten Lebensjahr vor. Innerhalb des ersten Lebensjahres hätten normalerweise 50 bis 70 % und bis zum Ende des zweiten Lebensjahres nahezu alle Kinder mindestens eine Infektion mit RSV durchgemacht.

Im Zuge der Corona-Schutzmaßnahmen waren viele solche Infektionen allerdings zeitweise ausgeblieben. Sind die Krankenhäuser jetzt am Limit, weil Mädchen und Jungen in der Corona-Zeit wenige Kontakte hatten und jetzt Infektionen nachholen?

Die Kindermediziner sehen nicht die Pandemie als primäre Verursacherin der teils dramatischen Situation in den Kliniken. „Dass Kinderleben im Moment in Gefahr sind, das hat die Politik zu verantworten“, resümiert Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Früher seien ganz andere Wirtschaftlichkeitskriterien an die Pädiatrie, also Kinderheilkunde, gestellt worden. „Jetzt muss Medizin profitabel sein, nicht Krankheiten heilen, sondern Geld bringen.“

Vornehmlich Kinder bis ins Grundschulalter

Sechs bis acht Wochen dauert eine Infektionswelle üblicherweise. Nicht nur in Bayern, Niedersachsen und Berlin, auch in Nordrhein-Westfalen berichten Kliniken von einer „maximal angespannten Lage“. So erlebt die Düsseldorfer Universitätsklinik bei ihren jungen Patientinnen und Patienten neben der RSV-Welle auch eine Grippewelle, die „vornehmlich den Kindern bis ins Grundschulalter massiv zu schaffen macht“, sagte Uniklinik-Sprecher Tobias Pott.