Nach Ansicht von Generalanwalt Mengozzi kann Luxemburg die Zahlung der Studienbeihilfe an Kinder von Grenzgängern an ein Wohnorterfordernis knüpfen. Er schlägt dem Gerichtshof vor, dem nationalen Gericht die Kriterien mitzuteilen, die es benötigt, um zu prüfen, ob dieses Erfordernis im Hinblick auf das Ziel, den Übergang der luxemburgischen Wirtschaft zu einer wissensbasierten Wirtschaft sicherzustellen, geeignet und verhältnismäßig ist.

Die luxemburgische Regelung über Studienbeihilfen wird in dem Sinne angewandt, dass luxemburgischen Staatsangehörigen und anderen Unionsbürgern eine finanzielle Unterstützung für das Hochschulstudium gewährt wird, wenn sie in Luxemburg wohnen.

Das Tribunal administratif von Luxemburg ist mit mehreren Klagen befasst, die studierende Kinder von in Luxemburg arbeitenden Grenzgängern erhoben haben, nachdem die luxemburgischen Behörden ihnen eine finanzielle Unterstützung für ihr Studium mit der Begründung verweigert hatten, dass sie nicht in Luxemburg wohnten. Die Kläger fechten die ablehnenden Bescheide an und machen geltend, dass eine Diskriminierung vorliege, weil die luxemburgische Regelung zu einer Ungleichbehandlung der Kinder von luxemburgischen Arbeitnehmern und derjenigen von Grenzgängern führe, die gegen den Grundsatz der Freizügigkeit verstoße. Der luxemburgische Staat verneint jegliche Diskriminierung und ist jedenfalls der Ansicht, dass die fraglichen Beihilfen keine soziale Vergünstigung seien.

In seinem Vorabentscheidungsersuchen geht das Tribunal administratif von Luxemburg davon aus, dass die betreffenden Studierenden nach dem luxemburgischen Code civil als gegenüber dem Elternteil, der Grenzgänger sei, unterhaltsberechtigt anzusehen seien. Der Generalanwalt erklärt, dass er dieser Annahme nicht folgen könne, weil diese Studierenden nach den Grundsätzen des internationalen Privatrechts nur dann als gegenüber dem betreffenden Grenzgänger unterhaltsberechtigt angesehen werden könnten, wenn sie es nach dem Recht seien, nach dem sich ihr Personalstatut bestimme. Dies könne das Recht des Staates sein, dem sie angehörten, das Recht des Wohnsitzstaats oder das des Wohnortstaats, es müsse aber nicht das luxemburgische Recht sein.

Das nationale Gericht werde sich daher mit dem Problem nur dann konkret auseinandersetzen können, wenn es nicht nur feststelle, dass die Studierenden im Haushalt der Grenzgänger lebten, sondern auch, dass Letztere ihnen weiterhin Unterhalt schuldeten und leisteten, wobei es zudem überprüfen müsse, ob die Studierenden in dem Land, in dem sie wohnten, tatsächlich oder potenziell in den Genuss einer Maßnahme kämen, die mit der durch das luxemburgische Gesetz vom 26. Juli 2010 umgesetzten vergleichbar sei.

Nachdem er dies vorangestellt hat, führt der Generalanwalt aus, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs

a) die Studienbeihilfe für unterhaltsberechtigte Kinder von Grenzgängern eine soziale Vergünstigung sei, hinsichtlich deren sie sich auf das in der Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft verankerte Diskriminierungsverbot berufen könnten,

b) das Wohnorterfordernis, das sich hauptsächlich zum Nachteil der Wanderarbeitnehmer und Grenzgänger auswirke, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten seien, eine mittelbare Diskriminierung darstelle, soweit es für die studierenden Kinder von Grenzgängern vorgesehen sei. Eine solche mittelbare Diskriminierung sei grundsätzlich verboten, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt und geeignet sei, die Verwirklichung des fraglichen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehe, was zu seiner Erreichung erforderlich sei.

Als Rechtfertigung führt die luxemburgische Regierung ein “politisches” oder “soziales” Ziel an, das darin bestehe, den Anteil der Personen mit Hochschulabschluss an der Wohnbevölkerung Luxemburgs wesentlich zu erhöhen und den Übergang der luxemburgischen Wirtschaft zu einer wissensbasierten Wirtschaft zu gewährleisten. Die Einwohner Luxemburgs seien mit der luxemburgischen Gesellschaft verbunden, so dass man annehmen könne, dass sie, nachdem Luxemburg ihr – gegebenenfalls im Ausland absolviertes – Studium finanziert habe, zurückkehrten und ihre Kenntnisse zu Gunsten der Entwicklung der luxemburgischen Wirtschaft einsetzten. Außerdem sei die Beschränkung der Gewährung von Studienbeihilfen auf die Einwohner Luxemburgs notwendig, um die Finanzierung des Systems zu gewährleisten und darauf zu achten, dass diese Vergünstigung nicht zu einer übermäßigen Belastung werde, die Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben könnte, die der Staat gewähren könne.

Nach Auffassung des Generalanwalts verlangt die Europäische Union von den Mitgliedstaaten Anstrengungen zur Erhöhung des Anteils junger Erwachsener mit Hochschulabschluss, auch wenn die Mitgliedstaaten insoweit über einen erheblichen Spielraum bei der Festlegung ihrer bildungspolitischen Ziele verfügten. Dieses Erfordernis liege insbesondere der Entscheidung zugrunde, die Luxemburg mit dem Gesetz von 2010 getroffen habe und die vor dem Hintergrund der aus historischer Sicht atypischen wirtschaftlichen Situation dieses Landes zu sehen sei. Von einer auf den Bergbau und die Stahlindustrie gestützten Wirtschaft habe Luxemburg nämlich nach dem Wegfall dieser Industrien einen Wandel hin zum Ausbau der Beschäftigung im Bank- und Finanzsektor vollzogen. Dieser Sektor sei in der Folge, und zwar schon vor der Finanzkrise, durch die auf Unionsebene getroffenen Maßnahmen zur drastischen Einschränkung der Vorteile, die für das luxemburgische Bankensystem im Vergleich zu den Bankensystemen der anderen Mitgliedstaaten bestünden, ernsthaft bedroht gewesen und sei es weiterhin. Die Maßnahmen, die Luxemburg getroffen habe, um ein hohes Ausbildungsniveau seiner Wohnbevölkerung zu gewährleisten, verfolgten somit ein legitimes Ziel, das als zwingender Grund des Allgemeininteresses angesehen werden könne.

Anders als die luxemburgische Regierung ist der Generalanwalt überzeugt, dass das bildungspolitische Ziel getrennt vom Haushaltsziel zu betrachten sei, auch wenn die Bestimmung der Empfänger einer sozialen Vergünstigung logischerweise Auswirkungen auf die wirtschaftliche Belastung des Staates habe. Das von Luxemburg angeführte Haushaltsziel könne jedoch keinen legitimen Grund darstellen, der eine Ungleichbehandlung von luxemburgischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten rechtfertigen könne.

Der Generalanwalt schlägt vor, zu prüfen, ob das letztlich angestrebte wirtschaftliche Ziel – der Übergang zu einer wissensbasierten Wirtschaft -, zu dessen Erreichung Luxemburg die fragliche diskriminierende Praxis eingeführt habe, ernsthaft und effektiv verfolgt werde und ob die Kosten zur Verhinderung dieser Praxis so hoch wären, dass sie die Erreichung des Ziels unmöglich machen würden. Diese Prüfung sei Sache des vorlegenden Gerichts.

Schließlich prüft der Generalanwalt, ob das Wohnorterfordernis geeignet und verhältnismäßig ist.

Wenn der Gerichtshof entscheide, dass ein Mitgliedstaat Maßnahmen ergreifen könne, um den Zugang seiner Wohnbevölkerung zum Hochschulstudium zu fördern, damit diese Personen anschließend dem luxemburgischen Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden und ihn bereicherten, sei das Wohnorterfordernis geeignet, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten.

Was die Verhältnismäßigkeit des Wohnorterfordernisses angehe, müsse das nationale Gericht prüfen, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehe, dass die in Luxemburg wohnenden Empfänger der Studienbeihilfe bereit seien, nach dem Abschluss ihres Studiums in dieses Land zurückzukehren und sich in das wirtschaftliche und soziale Leben Luxemburgs einzugliedern. Außerdem müsse das Gericht prüfen, ob die Umwandlung der luxemburgischen Wirtschaft in eine wissensbasierte Wirtschaft – und damit in eine Wirtschaft, in der Dienstleistungen im weitesten Sinne angeboten werden – tatsächlich durch öffentliche Maßnahmen zur konkreten Entwicklung neuer Beschäftigungsperspektiven betrieben worden sei.

Quelle: EUGH

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